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Demokratie
 

Der Stutt-Garten als Eden der Demokratie?

Von Kurt Wolfgang Ringel

„Wer gedenkt des erfolgreichen Protestes gegen den Bau einer Mercedes-Teststrecke im fränkischen Boxberg (Baden-Württemberg) vor 25 Jahren oder des Widerstandes gegen das geplante AKW in Wyhl am Rhein? Der idyllische Weinort am Kaiserstuhl, nicht etwa Brokdorf oder Gorleben, ist Keimzelle der Anti-Atombewegung Westdeutschlands. Bereits 1974 schlossen sich in Wyhl erste Bürgerinitiativen zusammen. Jahre später stellte Baden-Württemberg die Planungen ein. Zwar wurde die Absicht zum AKW-Bau nicht endgültig fallen gelassen, aber das Projekt galt als politisch nicht durchsetzbar.“ [1]
 
Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Ruhig war es also nie so richtig im marktwirtschaftlichen Musterländle.  Lange Zeit sah es nur danach aus. Aber jetzt wissen wir, so aus dem Nichts ist diese Bewegung nicht gekommen. Diese aktiven Proteste sind nicht dem Linksextremisten zuzuschreiben, die der Staat  gern für alles  verantwortlich macht, was sich  gegen  die Politikmauscheleien richtet.

Nein: „Im Protest gegen den Neubau des Hauptbahnhofes in Stuttgart (Stuttgart 21) kündigt zum ersten Mal in der Geschichte der BRD das urbane Bürgertum seine Treue zur CDU auf. Das sind keine marginalisierten Kleinbauern, das ist kein störrisches, zahlenmäßig kleines Landvolk, das da auf die Straße geht.“ [2]

„Es kommt vieles zusammen: Das Unbehagen gegenüber der repräsentativen Demokratie, die nicht mehr in der Lage ist, ein Gemeinwesen zusammen zu halten, und das an den sozialen Rändern immer mehr ausfranst; die Ohnmacht gegenüber einer staatlichen Bürokratie, die das Leben ihrer Bürger mittels kaltem Verwaltungsakt regeln will - von der Straßenverkehrsordnung über den Schulbesuch der Kinder bis hin zur Friedhofsordnung; so wächst das Selbstbewusstsein einer bürgerlichen Mittelschicht, die sich von genau diesem fürsorgenden Staat bevormundet fühlt, der die Verwaltungsakte sanktioniert. Letztlich daraus folgend: eine Solidarität, die nur noch gegenüber Seinesgleichen ausgeübt wird, nicht mehr gegenüber den sozial Ausgegrenzten.“ [3]

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in einer gefühlsgeladenen Pressekonferenz haben jugendliche und Eltern ihre Eindrücke vom Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Demonstranten dargestellt. Schüler und Eltern werfen nach Sichtung ihres eigenen Videomaterials der Polizei vor, von Anfang an auf Eskalation gezielt zu haben und vermuteten den Einsatz von professionellen Provokateuren.

»Wir fühlen uns verhöhnt«, erklärte Theaterregisseur Volker Lösch auf der Pressekonferenz. Seine Tochter war auf der Demo gewesen, er ebenfalls. Während der Demo im Schlosspark habe er die ganze Zeit gedacht: »Was, wenn hier jemand stirbt?« Denn das habe die Polizei offensichtlich in Kauf genommen. Ungefähr 20 Minuten Videomaterial wurde vorgeführt. Zu sehen war ein glatzköpfiger Polizist, der ohne sichtbaren Grund mit dem Schlagstock auf Jugendliche schlägt; Wasserwerfer zielen auf Demonstranten, die neben, nicht auf der zu räumenden Straße standen; Polizisten hinter Absperrgittern sprühen vor ihnen stehenden Demonstranten Pfefferspray in die Augen. [4]

„Das Publikum war meist einfaches Bürgertum, auch viele Omis und Opis, aber auch junge Mütter mit ihren Kindern, sogar einige in Anzug und Schlips. Einige Leute hatten tatsächlich Tränen in den Augen, und ich muß sagen, daß ich auch nicht unbewegt war ob dieser Szenen. Das war reine Barbarei.

Es kam mir so vor, als würden hier die letzten Reste unserer Demokratie, auf die ich einmal so stolz war, zu Grabe getragen, geschreddert. Die Bäume, die so hektisch unter dem Schutz hunderter Polizisten gefällt wurden, waren symbolisch für die eiserne Faust einer Vasallen- und Erfüllungspolitik, die sich ganz in den Dienst einer korrupten Oligarchenlobby gestellt hat und für unsere Besatzer gegen das Volk arbeitet.“ [5]

Sicher fragen sich die Leser auch, warum solch eine brutale Gewalt von Seiten der Staatsmacht gegen friedliche Demonstranten befohlen wurde. Es ist eine Art Doppelfurcht der Politiker. Und es ist das allgegenwärtige Gespenst des Kapitalismus. ( Erst mit der Beseitigung des Kapitalismus wird es verschwinden!) „Noch viel mehr als vor dem Volk fürchtet sich diese Politik vor der Wirtschaft. Ohne diese Angst wäre es möglich, den Bahnhofsbau zu stoppen und den anspruchsberechtigten Beteiligten Schadenersatz zu zahlen. Das wäre demokratisch und rechtsstaatlich. Wer hingegen - wie Herr Grube - einen Gegensatz zwischen Rechtsstaat und Demokratie zu konstruieren sucht, hat den Sinn unserer Demokratie nicht verstanden. Demokratie bedeutet ständige Veränderung.“ [6]

Und nun urteilen Sie selbst, von wem in Stuttgart die Gewalt ausging und ausgeht.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
 
fragen wir uns nun, warum diese  brutale Gewalt in Stuttgart  von Seiten  der Polizei im Auftrage von Wirtschaft und Landesregierung?

„Allerdings zeigt der Imperialismus der Ökonomie zwei Gesichter. Während einerseits ein pfennigfuchserischer Geiz des abstrakten Zeitregiments waltet und in den Betrieben sogar der Gang zur Toilette überwacht wird, macht sich andererseits eine geradezu feudale Vergeudungskultur geltend. Dem betriebswirtschaftlichen Sparwahn entspricht ein betriebswirtschaftlicher Größenwahn, der im Filz mit der Politik seine Blüten treibt. Ein Paradebeispiel bietet derzeit die Deutsche Bahn mit dem absurden Prestigeprojekt Stuttgart 21. Die veranschlagten Kosten sind nach unabhängigen Gutachten von 4 über 7 auf mittlerweile 12 Milliarden Euro gestiegen. Für die Gleise im Nah- und Güterverkehr gibt es kein Geld, aber für den ICE-Metropolenverkehr, der mit dem Flugzeug konkurrieren soll, darf geklotzt werden. Dieser Pyramidenbau schlägt vermutlich auf seine Urheber zurück, Investitionsruinen als Folge sind absehbar.“ [7]

Das der Kapitalismus  abtreten muss, wird nicht nur an  den Ereignissen  in Stuttgart sichtbar. Es ist nur ein negatives Beispiel von vielen.  Erinnern wir uns an die Finanzkrise und die Folgen für  die Menschen: „    Das ruinöse ökonomische Prestigedenken hat sich ebenso in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt wie die geizige Sparwut. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Kommunen, die ihr Personal ausdünnen, gieren nach Großevents (siehe Duisburg und das Desaster der Love-Parade); andere wollen Länderspielstadien aus dem Boden stampfen, obwohl sie gleichzeitig fast schon das Klopapier rationieren. Und dieselben »Unternehmer ihrer Arbeitskraft«, die sich zu Narren der Leistungshetze, Rundumüberwachung und sinnloser Rationalisierungsprogramme ihrer Lebenszeit machen lassen, stürzen sich für erst recht neurotischen Prestigekonsum in Schulden, deren Bedienung sie sich dann vom Mund absparen. Es ist kein Zeichen von Stabilität, wenn eine Gesellschaft zwischen extrem gegensätzlichen Verhaltensweisen schwankt. Wer sich zu Tode rationalisiert, muss sich im Gegenzug zur Überlebensgröße aufplustern. Entfremdete Totalverausgabung ist beides; aber vornehm geht die Welt zugrunde. [8]
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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ein Leser der Braunschweiger  Zeitung  schreibt in seinem Leserbrief zu  „Proteste in Stuttgart eskalieren” und dem Kommentar „Unterirdisch”: Die Behauptung, dass die Proteste gegen „Stuttgart 21” sich nicht gegen das Bauprojekt, sondern gegen den Staat richten, ist eine Diffamierung des Volkswillens.

Der Kommentator hat aber insofern recht, dass das Volk spürt, dass seine Staatsvertreter auf breiter Front gegen ihren Auftrag arbeiten und die eigenen Taschen mit Hilfe der Industrie füllen. Wie viele Millionen erhalten Mappus und seine Mannen von der Industrie dafür, dass sie das Projekt durchdrücken? Das ist immer öfter die Motivation, nach der Entscheidungen gefällt werden. Es dreht sich ausschließlich um Geld.

   Die Kinder, die in Stuttgart von der Polizei auf Weisung der Politik zusammengeschlagen wurden, werden sicher das Lager der „Politikverdrossenen” füllen, das von unseren scheinheiligen Politikern gern zu Wahlzeiten angeprangert wird. [9]
 
QUELLEN:

[1]  Bürgertum 21: Emanzipation von der CDU/ Von Wyhl nach Stuttgart; Neues Deutschland vom 11. Oktober 2010
[2] Ebenda
[3] Ebenda
[4] Der Kampf um die Bilder/Jugendliche zeigen Videos vom Polizeieinsatz...; Neues Deutschland vom  09./10. Oktober 2010
[5]  Aus einem Augenzeugenbericht; von  D. T.  verfasst
[6] Furcht vor dem Volk/ Grubes Rechtsverständnis ist mangelhaft;  Neues Deutschland vom 13. Oktober  2010
[7] Sparwahn und Größenwahn, von  Robert Kurz; Neues Deutschland vom 17. September 2010
[8] Ebenda
[9] Leser M. Z. in der Braunschweiger Zeitung vom 02. Oktober 2010

Ich wünsche uns allen ein nachdenkliches Wochenende, und besonders in diesem Demokratie-heißem Herbst.

Mit menschlichen Grüßen,

Kurt Wolfgang Ringel

 

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